Wird die Kurdenfrage die neue Palästina-Frage? Drucken

Vortrag am 6. Dezember 2008 in Kassel 

Engin Erkiner: Um die erste Frage zu beantworten, möchte ich zuerst die Geschichte von zwei Völkern vergleichen. Das palästinensische und das kurdische Volk kämpfen seit Jahren an vielen Fronten im Nahen Osten. Festzustellen sind zwischen den beiden Kämpfen sowohl Analogien als auch Unterschiede.

 

Es gibt zwei besondere Merkmale der Palästina-Frage:

Erstens: es gibt einen dauerhaften Krieg

  1. Krieg mit dem Hauptfeind Israel.
  2. Krieg mit den anderen arabischen Staaten in der Region: Jordanien, Syrien und Libanon. Zwischen der jordanischen Armee und den palästinensischen Refugees gab es einen Krieg im September 1970. Zahlreiche Palästinenser wurden in diesem Krieg umgebracht. Syrien unterstützte die Faschisten – namentlich die Falanjisten - im Libanon. 1976 massakrierten sie die Palästinenser im Kamp Tel-El-Zaatar. 1982 massakrierten die Falanjisten mit der Unterstützung der israelischen Armee die Palästinenser in Sabra und Shatila. Diese Kriege sind nun vorbei. Seit 1985 fand kein Krieg mehr zwischen Palästinensern und arabischen Staaten der Region statt.
  3. Krieg unter den Palästinensern: Zahlreiche bewaffnete Auseinandersetzungen fanden zwischen verschiedenen palästinensischen Organisationen statt. Während dieser Bürgerkriege unterstützten die Nachbarländer die eine oder die andere Gruppe. Z.B Syrien gründete eine Organisation, El Saika, und unterstützte die pro Syrien-Organisation Cephe Nidal gegen die El Fatah (Arafat Anhänger). Israel unterstützte in den 80’er Jahren die Hamas gegen die El Fatah und die PLO (Palästinensische Befreiungsorganisation), weil sie die stärkste palästinensische Gruppe war. In der zweiten Hälfte der neunziger Jahre war die Hamas der Hauptfeind Israels. Die palästinensische Gesellschaft ist seit vielen Jahren zwischen der Regierung (Al Fatah Anhänger) und der Hamas gespalten und manchmal fanden bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen den zwei Organisationen statt.

Zweitens: Die Frage des palästinensischen Staates bleibt ungelöst. „Bloß keinen Staat in der Region haben“ ist – offiziell- die Devise gegen einen palästinensischen Staat.

 Analogien und Unterschiede zu der Kurdenfrage 

Drei Staaten in der Region, in denen kurdische Bevölkerung lebt, sind gegen einen kurdischen Staat. Die Türkei, der Iran und Syrien plädieren – zumindest offiziell – für die Gründung eines palästinensischen Staates, lehnen aber strickt einen kurdischen Staat ab, damit ihr kurdischer Bevölkerungsanteil nicht beeinflusst wird.

Demgegenüber befürwortet Israel einen kurdischen Staat, damit ihr Hauptgegner in der Region, und zwar der Iran, geschwächt wird. (Im Iran leben ca. 9 Millionen Kurden) Die USA möchten auch einen kontrollierten neuen Staat in der Region, damit die Kurden die USA als „Retter“ ihrer Nation anerkennen und auch in Zukunft enge Verbündete bleiben.

 

Das kurdische Autonomiegebiet im Nord-Irak ist in einer schwierigen Lage. Kurden im Irak kollaborierten mit den USA. Zuerst taten sie das gegen das Saddam-Regime, dann unterstützten sie die amerikanische Besatzung. Diese Verhaltensweise verursachte eine tiefe Spaltung zwischen Kurden und Arabern. Wenn sich die USA aus dem Irak zurückziehen würden, wäre, trotz einer zurückbleibender amerikanischen Militär-Basis, ein Krieg zwischen Arabern und Kurden sehr wahrscheinlich.

Die türkische Regierung will das kurdische Autonomie-Gebiet ebenfalls beenden. Die Türkei hat seit Jahren ca. 5.000 Elitesoldaten im Irak. Sie gibt als Begründung die Verteidigung der Rechte der turkmenischen Minderheit.

Die Zukunft des Autonomiegebiets im Nord-Irak ist also ungewiss.

 Krieg unter Kurden 

In der Vergangenheit fanden zahlreiche bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen kurdischen Gruppierungen statt: Zwischen den irakisch-kurdischen Führern Barzani und Talabani sowie zwischen Talabani und der PKK. Seit einigen Jahren scheinen die bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen kurdischen Gruppen vorbei zu sein. Aber die Lage im Nord-Irak ist nicht stabil. Die Türkei bemüht sich ständig um die Auflösung der kurdischen Regierung des Autonomie-Gebiets. Die Türkei strebt in der ersten Etappe eine Lösung ohne die PKK an. Sie verlangt von der Autonomen Regierung strengere Maßnahmen gegen die PKK.  Vor ca. einem Jahr marschierten 80 Tausend türkische Soldaten gegen die vermutlichen PKK-Stellungen im Nord Irak auf. So eine große Gewaltausübung gegen ein paar Tausend Guerillas hat aber eine andere Bedeutung: Es war eine Machtdemonstration gegen die Autonomieregierung.

Die USA unterstützt die Annäherung zwischen der Türkei und der Autonomie-Regierung im Nord-Irak. So kann die Waffenruhe zwischen Barzani-Talabani und der PKK jeder Zeit platzen.

 

Ich habe die Analogien und Unterschiede zwischen der Kurden- und der Palästinafrage kurz zusammengefasst.

 Droht ein Bürgerkrieg in der Türkei? 

Der Krieg zwischen der türkischen Armee und der PKK dauert seit 1984 an. Seit 24 Jahren findet in der Türkei ein Bürgerkrieg statt. Anfang der 90’er Jahren war der Krieg besonders intensiv und trotz verschiedener inoffizieller Waffenstillständen zwischen den Beteiligten dauert der Krieg bis heute an.

 

Der Bürgerkrieg ist kein neues Phänomen in der Türkei - er hat in den letzten Jahren lediglich eine zusätzliche Besonderheit gewonnen: Die Einmischung der teilbewaffneten Nicht-Regierungs-Organisationen in den Krieg.

Seit einigen Monaten wurden besonders in den westlichen Teilen der Türkei Einrichtungen (Wohnungen, Geschäfte) von Kurden angegriffen. Manche Mitglieder der pro-kurdischen Partei HADEP wurden sogar auf der Strasse attackiert.

Die kurdischen Saisonarbeiter in der Nord-Türkei dürfen sich nur in bestimmten Gebieten aufhalten. In kleinen Städten der West-Türkei sind die Stimmen immer lauter geworden, die sagen, dass die Kurden in der Umgebung unerwünscht sind. Es gibt Appelle der Zivilgruppen für die Ausgrenzung von Kurden: keine Eheschließung mit einem Kurden bzw. einer Kurdin, kein Einkauf in kurdischen Geschäften …

Der Krieg in der Türkei wurde immer mehr „zivilisiert“. Jetzt beteiligen sich einige zivile Organisationen am Krieg gegen Kurden. Es gibt aber keine wesentliche Zuname militärischer Konfrontationen, aber nichtmilitärische Attacken auf die kurdische Bevölkerung. Ein Teil der bewaffneten Nicht-Regierungsorganisationen werden von der Regierung unterstützt.

 

Seit Jahren versuchen türkische Regierungen eine kontrollierbare Lösung für die kurdische Frage zu finden. Vor 25 Jahren praktizierten sie nur die negativen Maßnahmen und weil sie nicht funktionierten, versuchen sie zurzeit streng kontrollierte positive Maßnahmen durchzuführen. Vertreter der Türkischen Republik sind von der Auffassung der vergangenen 25 Jahren, dass „es kein kurdisches Volk und keine kurdische Sprache“ gibt zu der Anerkennung der Tatsachen übergegangen.

Die Anerkennung des kurdischen Volkes und der kurdischen Sprachen wurden aber nicht auf einer demokratischen und stabilen Grundlage verwirklicht. Inzwischen können Rückschritte vorgenommen werden und der bestehende Krieg, welcher bereits zahlreiche Menschenopfer gefordert hat, kann gewalttätiger fortgesetzt werden. Das aktuellste Beispiel hierzu ist der Status der kurdischen Sprache. In der Türkei ist die kurdische Sprache offiziell legitimiert. Die Menschen können sich öffentlich in kurdischer Sprache unterhalten und publizieren. In dieser Legitimität gibt es jedoch folgende Einschränkungen. Die Buchstaben x, q, und w, welche in der kurdischen Sprache vorhanden aber in der türkischen Sprache nicht enthalten sind, sind verboten und Grundlage für Untersuchungen der Staatsanwaltschaft.

Parks und Blumen können nicht mit kurdischen Namen benannt werden. Die Namensgebung für Parkanlagen seitens eines Bürgermeisters, die keinerlei politischen Inhalt hatten, wurden verboten.

Kurdische Politiker und Bürgermeister werden gerichtlich bestraft, weil sie kurdisch sprechen und die kurdische Sprache benutzen. Es ist immer noch verboten, kurdische Politik zu praktizieren. Es ist nicht einmal erlaubt, kurdisch als Wahlfach in den Schulen zu lehren.

Aus der Sicht außerhalb der Türkei betrachtet, erscheint die Tatsache, dass der TRT (türkischer Staatsrundfunk) seit Beginn des Jahres 2009 in Kurdisch sendet, als ein wichtiger Fortschritt in Richtung einer demokratischen Lösung der kurdischen Frage. Jedoch entspricht dies nicht der Wahrheit. Alle oben genannten Verbote bestehen parallel zur täglichen Sendung in kurdischer Sprache. Die Hindernisse zur Nutzung der kurdischen Sprache werden im Grundgesetz und in einzelnen Paragraphen weiterhin geschützt.

Die türkische Regierung, die nun eine kurdische Fernsehsendung ausstrahlt, weigert sich nach wie vor durch politische Schritte manifeste und gerechte Lösungen zur kurdischen Frage zu verabschieden, die militärischen Operationen werden ohne Unterbrechung weiter fortgesetzt und die türkischen Flugzeuge bombardieren nahezu täglich irakischen Boden.

Die kurdische Politikerin Leyla Zana, die 10 Jahre im Gefängnis saß, die nie eine Waffe in der Hand hielt und sich um eine friedliche Lösung der kurdischen Frage bemüht hatte, wurde im Dezember 2008 zu weiteren 10 Jahren Gefängnisstrafe verurteilt.

 

Als Zusammenfassung kann festgestellt werden, dass die Kurden-Frage mit ihren Analogien und Unterschiede eine neue Palästina-Frage ist. Der Türkei droht eine neue Art von Bürgerkrieg.